Kindheitserinnerungen 1943 – 54
Überglücklich war ich, wenn ich im Sommer barfuss gehen durfte. Natürlich nicht in den Kindergarten oder später in die Primarschule. Aber immer wenn ich frei hatte. Die spitzen Steine und der manchmal sehr heisse Asphalt, der oft richtig glühte, spornte mich an, schneller zu gehen und zu hüpfen. Meine Freundinnen und ich sprangen dann immer um die Wette, und der, der den Schattenplatz zu erst erreichte hatte gewonnen. Wenn die lange Hauptstrasse, die zur Thur führte so richtig flimmerte vor Hitze, gab es ein richtiges Wettrennen unter uns Kindern, wer zuerst seine Füsse in das kühle, erfrischende Nass des Flüsschens strecken konnte. Dann hüpften wir im Fluss von Stein zu Stein. So richtig baden konnte man nicht, aber wir erfanden immer neue Wasserspiele und vergnügten uns so stundenlang. Der Nachhauseweg war dann dagegen eher langweilig.
Allzu gerne hielt ich mich auch im Gartenhaus, in der Waschküche auf, immer wenn unsere Waschfrau alle 3 Wochen kam, um sämtliche Wäsche die in dieser Zeit anfiel, in einem grossen Zuber zu kochen und zu schrubben.Mit einem riesigen Stück Kernseife und einer Bürste liefen ihre Hände unermüdlich auf dem Waschbrett hin und her. Wenn dann die grossen Wäschestücke, vor allem die Bettlacken ihre Kochzeit im Zuber überstanden hatte, fischte sie sie mit einer Stange heraus. Nun wurden sie mehrfach gespült und von Hand ausgerungen. Unsere Waschfrau hatte richtige Mäuse an den Oberarmen. Damit sie die schwere Arbeit gut durchhielt, trank sie immer Rotwein dazu. Selbst brachte sie eine Flasche Chianti mit. Mein Vater meinte ,dass dieser Wein vorwiegend aus Eselsblut bestehe. Verdünntes Eselsblut mit Alkohol. Er war davon überzeugt. Ich nicht. Unsere Gina konnte herrlich singen. und lachen. Die Chianti Flasche war immer nach 3-4 Stunden leer. Da sie den ganzen Tag , oft bis in die Nacht wusch und ausrang, bat sie mich meistens am Nachmittag um Nachschub. Ich schlich dann heimlich in unseren Weinkeller , und da mein Vater ja nichts bemerken durfte, griff ich immer zu den staubigsten Flaschen. Ich dachte, die würden sowieso nicht mehr beachtet. Einmal lag unsere gute Gina lallend auf dem feuchten Boden in der Waschküche. 1 Stunde vorher brachte ich ihr so eine staubige Flasche Rotwein aus unserem Keller. Ich spielte im Garten und hörte plötzlich ihre herrliche Stimme nicht mehr. Voller entsetzen platzte ich in die Sprechstunde meines Vaters herein und berichtete ihm vom Zusammenbruch der Waschfrau. Sofort kam er mit und erkannte die Situation. Er holte eine Matratze , legte diese und Gina drauf in einen Nebenraum und öffnete Türe und Fenster. Derweil dampfte und sprudelte es in dem grossen Topf in der Waschküche weiter,der ganze Raum war mit heissem Dampf erfüllt. Diese Atmosphäre hat mich verzaubert. Ich fühlte mich dann immer in eine andere Welt versetzt, und stellte mir vor, dass plötzlich Elfen aus dem dampfenden Trog steigen würden und ich mit ihnen zu tanzen beginne. Singend und mich in einem sanften Rhythmus bewegend erwartete ich immer wieder die Elfenschar . Anschliessend wollte ich mit ihnen dann auf die blühende Wiese im Garten, ein Stück Rasen, dass der Gärtner extra nie gemäht hat, damit wir Kinder sehen und riechen konnten, was die Natur für wunderbare Blumen , einfach so, hervorbrachte. Meine Mutter war eine begeisterte Botanikerin, sie durfte allerdings dieses Fach nicht studieren.
Ein aufregender Waschtag in einem Spätsommer ist mir in besonderer Erinnerung. Ich wartete wie immer auf die Elfen, die ja jeden Moment aus dem dampfenden Waschtrog springen würden. und spähte dabei durch das Fenster zu dem herrlich alten, knorrigen Kastanienbaum. Da, was guckte zwischen den schon leicht gefärbten Blättern heraus? Ein Hexengesicht. Ich schaute zwei, dreimal hin. Ja , es war ein Hexengesicht, und rote Gummistiefel sah ich an ihren Beinen, die auf einem dicken Ast standen. Ihre Krallenhände hielten sich an einem anderen Ast fest. Sie grinste mich frech an . Da erschrak ich fürchterlich. Wieder sprang ich flugs in die Praxisräume meiner Eltern und erzählte meinem Vater atemlos von der Hexe mit den roten Stiefeln im Kastanienbaum. Es war ja ein heller sonniger Tag. Ich konnte mich nicht getäuscht haben. Mein Vater nahm mich bei der Hand und wollte sich von dem Spektakel selbst überzeugen. Ja, da war bestimmt eine Hexe, nun hat sie meinen festen Schritt gehört und ist verschwunden., waren seine Worte. Die kommt jetzt nie mehr. Du brauchst keine Angst mehr haben.
Mir fiel ein Stein vom Herzen. Dass schon der knirschende Schall der Schritte meines Vaters auf den Kieselsteinen diese fürchterliche Hexe vertreiben konnte machte mich noch stolzer, und die Bewunderung, die ich meinem Vater gegenüber hatte, wuchs ins unendliche.
Hinter dem Gartenhaus mit der Waschküche war ein grosser Gemüse- und Obstgarten angelegt. Auch da hielt ich mich immer gerne, zusammen mit dem gutmütigen,fleissigen Gärtner auf. Der Schäferhund den er immer mit sich führte wurde mir zum Freund. Wir selbst hatten „ nur „ einen kleinen Jagdhund. Mein Vater war ein begeisterter Jäger. Jockel, der eigentlich Waldi hiess, lebte im Haus, aber in einem nur von aussen begehbarem Raum. Es war kein Keller eher so eine Art Verliess. Tagsüber sprang er meist im grossen Garten herum. Füttern durfte ihn ausschliesslich mein Vater. Das grosse, schwere Gartentor musste daher immer geschlossen bleiben, damit Jokel ( Waldi ) nicht abhauen konnte. Darauf musste streng geachtet werden. Dem war natürlich nicht immer so. Mir war das Tor einfach zu schwer. So kam was kommen musste.Eines Tages wollte mein Vater zur Jagd, nachdem er den letzten Hausbesuch beendet hatte. Meine Mutter sollte alles für ihn bereitstellen, so auch Waldi an die Leine legen. Der aber war weg. Aufgeregt suchten wir alle das Tier im grossen Haus und in allen Ecken und Büschen des Gartens. Da kam meiner Mutter die Idee, es mit dem Jagdhorn zu versuchen, auf dessen Töne der Hund trainiert war und immer bestens reagierte.
Alle versuchten mit angestrengt aufgeblähten Backen dem Instrument einen Ton zu entlocken. Ich war damals schon in der ersten Klasse und hatte bereits seit 2 Jahren Blockflötenunterricht. So geschah das Wunder, dass ausgerechnet ich dem Horn ein paar Töne entlocken konnte. Ich lief auf der Strasse auf und ab, und es dauerte nicht lange da kam der Hund tatsächlich freudig angetrappt.
Nun rettete ich mit dieser Aktion den Jagdtag für meinen Vater, der als er nach Hause kam alles so vorfand wie er es sich gewünscht hatte, und von der grossen Aufregung vorher nichts mitbekommen hat.
Oft spielte ich auch mit Nachbarskindern. Links von unserem Haus stand das Wohn- und Geschäftshaus eines namhaften Metzgers, rechts wohnte eine Familie, die eine gut bürgerliche Wirtschaft betrieb. Ausserdem war auch eine Bäckerei in ihrem Haus. Hatte ich Lust auf eine zusätzliche Scheibe Wurst, rannte ich nach rechts, das dazugehörige Bürli ( Brötchen ) gab es dann links.
Beim Schlachten eines Schweines habe ich auch mal zugeschaut. Als dann aber mit brühend heissem Wasser die Borsten abgerubbelt wurden, habe ich mich aus dem Staub gemacht.
Schräg gegenüber von unserem Haus , etwas ab von der Strasse, wohnten ein paar Italiener , wir Kinder nannten sie Tschingge, oder Spaghettifresser. Es waren Gastarbeiter. Das hiess, dass diese Männer immer nur für ein paar Monate in die Schweiz durften. Ihre Familien mussten in Italien bleiben. Sie kamen dann jedes Jahr wieder für 6 oder höchstens 9 Monate, immer in die gleiche Kartonagefabrik. Der Besitzer war der reichste Mann im Ort. Diese Industriefamilie waren die eigentlichen Herrscher des grossen Dorfes und der Umgebung. Sie wurden von allen bewundert. Die älteste Tochter, gross, schlank, blond, mit einer unwiederstehlichen Hochsteckfrisur, war 9 Jahre älter als ich und der heimliche Schwarm aller pupertierenden Jungs in der Gegend.
Eines Tages, während des gemeinsamen Abendessens erlebte ich meinen sonst recht munteren Vater sehr schweigsam und geknickt. Ich wollte wissen, was er denn erlebt habe, dass ihn so ruhig und traurig stimmte. Er flüsterte was von Berufsgeheimnis, und damit war für mich das Thema vom Tisch. Jahrzehnte später erzählte er mir dann, dass der Besitzer der Kartonagefabrik damals in kurzer Zeit an Krebs gestorben sei. Herr F. der altersmässig noch im vollen Saft stand, bot meinem Vater 1 Million Schweizer Franken an, wenn er ihn heilen könne. Der Mann kam aber schon voll durchwebt mit Metastasen zu meinem Vater, und dieser wusste sofort, dass er ihm nicht mehr helfen konnte. Durch die Behandlung und psychologische Zuwendung , konnte er in den letzten Wochen seines Lebens wenigstens seine Lebensqualität verbessern.,nicht aber sein Leben verlängern oder gar retten.
Lange Jahre durften die Gastarbeiter ihre Familien nicht in die Schweiz holen. Trotzdem gab es eine komplette Familie. Vater, Mutter und endlos viele Kinder. Ich erinnere mich noch sehr genau wie ärmlich die wohnten. Kleine dunkle Zimmer, ein Ofen heizte mehr schlecht als recht alle Zimmer. Auch gab es kein Badezimmer, und nur fliessendes kaltes Wasser in der Küche. Da standen ein paar schäbige Schränke und vor allem ein grosser schmutziger Holztisch. Unzählige meist wacklige Stühle, deren Farbe abgeplatzt war standen um ihn herum. Es herrschte immer ein heilloses Durcheinander von schmutzigem Geschirr und Essensresten. Mitten auf dem Tisch stand fast immer ein Topf auf dem ein sitzendes Kleinkind sein Geschäft machen sollte. An der Brust der Mutter hing immer ein Säugling. Sie schmuste viel mit ihren Kindern, lachte mit ihnen und herzte sie. So eine innige körperliche Zuwendung von Seiten meiner Mutter , war in meinem Elternhaus nicht üblich. So genoss ich es auch mal auf dem Schoss dieser kleinen rundlichen dunkelhaarigen Frau sitzen zu dürfen. Sie streichelte mir dann immer liebevoll mit ihren abgearbeiteten Händen durch die Haare, murmelte was wie „ bella bionda „ und lehrte mich dabei ein paar italienische Wörter. Es kam jedes Jahr ein Baby dazu, und neben Hauseingang flatterten immer frisch gewaschene Windeln. Aber diese Menschen lachten viel und freuten sich immer, wenn ich sie überraschend besuchte, und mit ihren Kindern spielte. Sofort boten sie mir auch immer einen Keks und etwas zu trinken an. Das gefiel mir sehr, gab es bei uns doch nur zu besonderen Anlässen ein Guetzli.
Eine der Töchter war schon 11 oder 12 Jahre. Alle Kinder dieser Familie, inklusive der Eltern, hatten wunderschöne feste dunkle Haare. Ich beneidete sie sehr um ihre üppige Haarpracht. Eines Tages erzählte mir der Backfisch, dass sie auch noch unten am Bauch tolle Haare hätte. Ich lachte und meinte das könne wohl nicht sein,Kein Mensch habe unten am Bauch Haare. Daraufhin zog sie mich in ihr Schlafzimmer, dass sie mit 3 Geschwistern teilen musste und zog ihre Unterhose aus. Ich war sprachlos und durfte dann ihre samtweiche schwarze Muschi auch anfassen. Ich musste ihr schwören, es niemandem zu sagen. Da hielt ich mich streng daran, glaubte ich doch, dass nur sie so eine merkwürdig, behaarte Scheide besass, und war wieder neidisch auf diese tolle Besonderheit. Ihrer Zusicherung, dass auch ich in ein paar Jahren da unten Haare bekäme, glaubte ich nicht. Von da an aber durfte ich immer mal wieder gucken, und sie forderte mich dann auf, sie an ihrem unteren Wuschelkopf zu berühren, was ich auch tat und sehr amüsant fand.
Doch irgenwie haben meine Eltern mal zugeflüstert gekriegt, dass sich ihre Tochter öfter bei den Gastarbeiter aufhalten würde, und ich mit der ältesten Tochter „ Fummelspiele „ treiben würde. Sie verboten mir sofort den Umgang mit dieser Familie. Unterdessen aber hat mich die Neugier gepackt, und ich wollte auch von kleinen Jungs wissen, ob sie da unten Haare hätten. Dass die Jungs eine Penis und keine Scheide haben, war mir von meinen Brüdern her bekannt. Ich war froh, nicht so einen zusätzlichen Zipfel haben zu müssen.
Aber auch diese „ Doktorspiele“ sprachen sich schnell bis zu meinen Eltern rum Hatte sich doch ein Nachbarsjunge bei seiner Muttter beklagt, dass ich von ihm verlangt hätte dass er sich die Hose auszuziehen soll.
Nun reichte es meiner viktorianisch erzogenen Mutter. Ich musste in das Elternschlafzimmer, wo schon der Teppichklopfer bereit lag. In dem Moment klingelte das Telefon., das auf dem Nachttischchen meines Vaters stand. . Meine Mutter nahm den Hörer ab , ich nutzte diese Gelegenheit, öffnete das Fenster und schmiss den Teppichklopfer in den Garten. So entkam ich einer Schlagstrafe. Wir wurden generell nie geschlagen, aber meine unkeusche Neugier überforderte meine Mutter wohl sehr. Mein Vater sah das alles gelassener.
Nebst dem Gartenhaus, was im hinteren Gartenteil stand, gab es auch noch eine grosse Scheune. Mit einer Tenne, die meinen ältesten Bruder und seinen Freunden als Bühne diente. Ab und zu führten sie da ein selbsteinstudiertes Theaterstück auf. Manchmal durfte ich gnädigerweise eine kleine Nebenrolle spielen. Die Zuschauer, die ich immer direkt von der Strasse hereinholte, mussten dann 10 oder 20 Rappen Eintritt bezahlen. So kamen wir im Sommerhalbjahr zu einem zusätzlichen Taschengeld. Wenn mein Bruder beim Autowaschen geholfen hat, konnte er sich auch was dazu verdienen.
So vergingen meine ersten 9 Lebensjahre wie im Flug. Ich hatte viele Freundinnen, in der Schule war ich Lehrers Liebling und eine recht gute Schülerin.
Da erzählte mir eines Tages auf dem Schulhof ein Mädchen, dass ich ja nicht mehr lange in ihrer Klasse sei. Warum wollte ich wissen. Ihr zieht ja bald in die Stadt, war ihre Antwort. Nein, dass wüsste ich schrie ich ihr entgegen.
Zu Hause berichtete ich sofort meiner Mutter von diesem dummen Geschwätz. Sie schaute ganz irritiert und sagte dann leise, dass das Mädchen recht habe.
Sie schrieb mir auf einen Zettel die neue zukünftige Adresse, damit mir meine Freundinnen schreiben können. Für mich brach eine Welt zusammen. Nichts war mehr so, wie es war. Der Umzug erfolgt 4 Wochen später. Meine Grossmutter kümmerte sich in der Zeit sehr um mich und meinen ältesten Bruder. Das Kinder und Dienstmädchen mit meinem 2 kleineren Brüdern, blieben noch ein paar Wochen länger im grossen Haus.
Mein Grossmutter begleitete uns am ersten Schultag in die neue Schule. Wie ein italienischer Palazzo empfand ich das neue Schulgebäude. Gross und unwirklich, und so viele Kinder. Die Klassen waren streng unterteilt in Knaben und Mädchenklassen.
Meine neue Lehrerin, grauhaarig mittellange Haare mit einer Aussenwelle, stellte mich der Klasse vor. Alle schauten irgendwie komisch. Ich kam ja vom Land. Nun verstand ich nichts mehr. Die Diktate waren ganz anders und die rechneten Sachen, von denen ich noch nie was gehört hatte. Mir wurde Angst und Bange. Der Kommentar meiner Mutter war: das kommt schon, du musst halt Geduld haben.
In Erinnerung habe ich, dass mein ältester Bruder gar keine Schwierigkeiten mit der schulischen Umstellung hatte. Er hatte wohl eher Probleme mit der Tatsache, dass wir jetzt nicht mehr in einem grossen Haus mit Garten wohnten, sondern uns mit einer 6 Zimmer Etagenwohnung begnügen mussten. Diese Wohnung befand sich zwar in einem schönen Jugendstilhaus, aber die Umstellung war trotzdem enorm. Es war auch kein Geld und Platz für das Kindermädchen mehr da, nur noch für ein Dienstmädchen, die ihr Zimmer oben unter dem Dach hatte , wo auch die anderen Dienstboten des Hauses wohnten.
Mein Vater, der die ersten 10 Jahre seines Berufslebens als Landarzt arbeitete, wollte sich zum Magen-Darm-Spezialisten ausbilden lassen. Er träumte von einer Arztpraxis in der Stadt, wo er nur noch anspruchsvolle interessante Krankheitfälle betreuen wollte. Er hatte genug von den vielen Nächten und Wochenenden, wo er auch arbeiten musste, um dann oft festzustellen, dass es sich nur um einen harmlosen Schnitt in den Finger oder um einen eitrigen Zahn gehandelt hat, der bestimmt auch schon tagsüber schmerzte. Da der Zahnarzt nachts nicht zu erreichen war, musste sich mein Vater dann auch mit eitrigen Zähnen herumschlagen.So verkaufte er seine gut gehende Landarztpraxis, um sich nochmals 4 Jahre weiterzubilden. Wir waren schon eine Familie mit 4 Kindern und lebten nun von einem Assistentengehalt des Spitals. Das war knapp, und nun war Schmalhans angesagt. Das Geld der verkauften Praxis wurde gespart, um finanziell nach 4 Jahren mit einer neuen, internistischen Praxis ohne Schulden, wieder starten zu können.
Jetzt kam keine Waschfrau mehr. Die grosse Wäsche, also Bettwäsche, Küchentücher , Unterwäsche und Bade und Küchentücher kamen 1 mal im Monat in eine Wäscherei. Die kleine Wäsche musste unser Dienstmädchen von Hand- oder in einem kleinen Zuber in der Küche waschen. Es wurde nun auch nicht mehr so viel eingekocht,wie früher, besassen wir ja keinen Garten mehr. Irgendwie war alles enger. Wurde mir ein Kleid zu kurz, kam eine Schneiderin ins Haus und diese nähte dann einfach eine in der Farbe passende Bordüre unten am Saum fest. Das gleiche machte sie mit den Ärmeln. Auch der Wintermantel wurde so künstlich verlängert, und konnte dann noch mal 1-2 Jahre getragen werden. Ich schämte mich manchmal sehr, glaubte ich doch, dass alle merkten, dass ich nur noch künstlich verlängerte Kleider und Mäntel trug. Die Hausschneiderin, die auch Socken stopfte und die Fallmaschen der Seidenstrümpfe mit Naht meiner Mutter hoch häkelte, besserte auch die Hemdkragen meines Vaters aus. Der wechselte jeden Tag seinen Kragen, aber das eigentliche Hemd nur 1 mal die Woche. Aber es wurde jeden Tag von meiner Mutter eine frische Unterhose, inkl. ein Paar Socken und einem Taschentuch auf den Stuhl meines Vaters gelegt, der neben seinem Bett stand. Damals fand ich das schon komisch, dass er das nicht selber machte. War meine Mutter mal nicht da, wurde das zu meiner Aufgabe.
In Erinnerung bleibt mir auch, dass während der Kriegsjahre ,Marken herausgegeben wurden. Die Rationierungskarten wurden schon seit dem 1.November 1939 ausgegeben. Zunächst galten sie nur für einen kleinen Teil der Lebensmittel. Viele Familien konnten die Fleischmarken nicht eintauschen, da sie zuwenig Geld dafür hatten. Mein Vater als Landarzt erhielt aber oft anstatt Geld Lebensmittel von den Bauern. Eier, Milch Brot und Kartoffeln. Gemüse und Obst hatten wir im eigenen Garten.Zucker , Mehl und Öl waren rar . Aber ich habe nicht in Erinnerung, dass wir Hunger litten.
In Erinnerung blieb mir vielmehr, dass mein Vater oft wochenlang im Militärdienst war. Wir hatten in dieser Zeit dann immer junge Assistenzärzte zur Vertretung. Manche hatten keinen Führerschein , und meine Mutter chauffierte sie dann im Topolino, unserem Zweitwagen, zu den Hausbesuchen.
Meistens war meine Mutter gut gelaunt, diese jungen Ärzte waren immer sehr höflich und zuvorkommend , manche spielten auch abends mit uns und reihten sich so in das Familienleben ein. Ein Dr. Fuchs machte bei uns mehrmals Vertretungen. Der gehörte auch zu den führerscheinlosen. Aber meine Mutter fuhr in gerne durch die Gegend. Mittags um 12.30 wurde immer das Radio eingeschaltet. Da hörte man Nachrichten aus aller Welt, und die Erwachsenen erfuhren , wie es um den Krieg wirklich stand. Wenn mein Vater da war herrschte dann eine totenstille. Er konnte fuchsteufelswild werden, wenn ein Kind während der Nachrichten eine Frage stellte oder eine Bemerkung machte. Nachher wurde immer darüber gesprochen und politisiert, so wie in fast allen Schweizerfamilien. Die Frauen erhielten das Stimmrech zwar erst 1972, aber politisch sind und waren sie immer besser informiert, als viele schon lange stimmberechtigte Frauen anderer Länder. Oft hat der Mann das gewählt, was ihm seine Frau empfahl. Viele Frauen waren immer der Ansicht, dass man auch ohne eigenes Stimmrecht die Politik beeinflussen könne , und hatten bestimmt nicht Unrecht.
Während des Krieges mussten wir auch unser Haus verdunkeln, das hat uns Kindern immer Spass gemacht. Auch hörten wir oft die Alarmsirenen, ich glaube die Schweiz hat sich eingeigelt. Mein Vater sagte oft , dass Hitler die Parole ausgab: die Schweiz das kleine Stachelschwein, holen wir auf dem Rückweg ein.
Zwischen dem 3. und 4. Lebensjahr habe ich das Wort Krieg bewusst aufgenommen. Ich konnte mir allerdings nichts darunter vorstellen. Bis eines Tages mein Vater uns alle mit auf die Dachterrasse unseres Hauses nahm . Wir fanden Silberlamellen, die die Alliierten abwarfen, um die deutsche Flugabwehr zu täuschen. Man hörte schon länger eine Dröhnen und Knallen. Ende Oktober 1943 und auch im April 1944 wurde Friedrichshafen bombardiert. Am 1.April 1944 kam es zu der schrecklichen Fehlbombardierung von Schaffhausen. Es gab 40 Tote und viele Verletzte. Das sind die Amerikaner, die zerstören jetzt Deutschland. Das haben diese Menschen Hitler zuverdanken, so erklärte mein Vater damals die Situation. Heute vermutet man, dass die amerikanischen Bomber eigentlich das 200 km entfernte deutsche Ludwigshafen treffen wollten. Es herrschte allerdings bis ende des Krieges eine heimliche Angst , nicht nur in unserer Familie. Hitler ist unberechenbar, das hörte ich oft.
Während meiner ersten 12 Lebensjahre assen wir zum Frühstück immer Porridge. Einen Haferflocken Brei. Der eigentlich Luxus war das bisschen Zucker, das wir darüber streuen durften. So gesättigt, kamen wir bis zum Mittagessen gut über die Runden. Irgend wann wollten wir Kinder dann auch wie die Grossen, ein „ Gonfi „ ( Marmelade ) Brot, dazu gabe es eine warme Ovomaltine. Zum Znüni hat uns Mutter ein Bürli ( Brötchen )in die Schultasche gesteckt. Milch gab es dann in der Schule gratis dazu. Als Obst assen wir jeden Tag einen Apfel. Orangen, Bananen und Mandarinen gab es nur zu Weihnachten. Der Nikolaus, d.h. Knecht Rupprecht, der den hl. Nikolaus immer begleitete brachte eine Rute, ( symbolisch, wir wurden nie geschlagen ) Nüsse und Mandarinen. Für jeden eine. Aus dem grossen Sündenbuch, lass Nikolaus immer persönlich vor. Er erwähnte aber auch immer die guten Taten.Begleitet wurden die 2 Kläuse immer von einem wunderschönen Engel. Ich erinnere mich besonders an einen, der so herrlich mit den Wimpern klappern konnte.So ein Engel wollte ich auch werden. Ich übte heimlich schon den Augenaufschlag vor dem Spiegel. Dieser Wunsch wurde mir dann, als wir schon in der Stadt wohnten erfüllt. Ich durfte dann 3 Jahre lang zu Weihnachten als Engel mit anderen Engeln zusammen ins Stadtgefängniss und den dortigen Häftlingen auf der Flöte vorspielen. Einige weinten dann, es gab aber auch welche, die das schrecklich langweilte. Wenn ich nicht grade spielen musste, stellte ich mir immer vor, was die wohl angestellt haben. Die die weinten, waren bestimmt Mörder, und bereuen jetzt alles. Die Gleichgültigen habe ich unter die Räuber eingestuft, die Gierigen die nicht genug haben können und in Gedanken schon den nächsten Überfall planen, wenn sie aus dem Gefängnis kommen. Diese vorweihnachtlichen Gefängnisbesuche als Engel waren etwas ganz besonderes. Die Atmosphäre strömte was Spannendes aber auch Unheimliches aus. Die Gefangenen in ihren gestreiften Hosen und Jacken stramm in Reih und Glied sitzend , mit einem zum Teil erwartungsvollen, aber auch schuldbewussten Blick. Mir kam es immer fast so vor, als ob die Mehrzahl sich schämen würde.
Ob mein grosser Wunsch, dass der von mir unterdessen bestens beherrschter Wimpernschlag , auch die Männer in der hintersten Sitzreihe getroffen hat, in Erfüllung gegangen ist, bleibt bis heute ein Geheimnis.